Über
Sinn und Unsinn der Kunst
Vor ein paar Tagen wurde mir eine Frage gestellt, die mich bis in die
Grundfesten erschütterte; ein Buch mit Kurzgeschichten lag herum und
währenddem mein Arbeitskollege es anschaute, fragte er mich: „Sag mal, wieso machst du dir die Mühe, solche Kurzgeschichten zu lesen, das ist doch sinnlos?“ Ich antwortete, dass mir solche Geschichten eben die Fahrt im Postauto und im Zug erleichtern und ich mich dadurch nicht langweilen müsse. Eine bessere Antwort kam mir nicht in den Sinn, und diese war nicht einmal die halbe Wahrheit. Es ist durchaus eine berechtigte Frage, was denn ein Buch bringen soll. Welchen Nutzen zieht man daraus? Ist man nachher ein besserer Mensch geworden, wenigstens ein bisschen? Bringt es einem irgendwie weiter?
Die gleichen Fragen stellen sich auch bei einem Besuch in einem Museum; weshalb steht man versunken einige Minuten vor einer Büste oder rätselt über ein Bild, oder weshalb fährt man nach Genf um die neuesten Kreationen der Autobauer zu bestaunen und weshalb zahlt man 70 Franken für in Konzert im Kongresshaus? Was bringt sowas? Schläft man am Abend dann besser ein, kann man nachher von sich behaupten, man sei verändert worden?
Gibt es etwas in der Kunst, welches einen neuen Menschen aus uns machen kann? Verändert ihr Genuss irgend etwas an unserem zukünftigen Leben?
All diese Fragen kann man mit Bestimmtheit verneinen. Man ist am Abend genau so müde, wenn nicht noch mehr, mag am nächsten Morgen gleich ungern aufstehen und spätestens beim Müsli oder beim lesen der Tageszeitung ist alles wieder vergessen. Trifft man sich mit einem Bekannten, so redet man zwar darüber oder erinnert sich desselben weil man im Fernsehen oder in der Zeitung davon erfährt aber ansonsten werden solche Ereignisse in entlegenen Gehirnregionen gut abgespeichert, auf die ikm Normalfall nur noch in Nostalgieanfällen zurückgegriffen wird.
Man darf also behaupten, das der Genuss von Kunst durchwegs keine Veränderungen oder Verbesserungen des alltäglichen Lebens mit sich bringt, Kunst ist also sinnlos, im Gegenteil zu essen, schlafen, Freundschaften
pflegen, flirten usw.nun ja, so in etwa, Kunst in welcher Form auch immer, ermuntert uns doch wieder und wieder Ausstellungen zu besuchen, an Konzerte zu gehen, Messen zu besuchen, wieder und wieder ein neues Buch zu beginnen und darin zu versinken. Das bringt dann auch den Vorteil mit sich, dass man sich eine immerzu wachsende Bildung aneignet, gute Bücher von schlechten unterscheiden kann, Parallelen ziehen kann zwischen verschiedenen Bauweisen von Häusern oder Autos, oder Interpretationen eines Stückes beurteilt und nach einiger Zeit kann man so herrlich fachsimpeln über verchromte Vergaser oder über die bevorzugten Farben der impressionistischen Malerei oder über die Bücher die man alle schon gelesen hat, von Goethe oder Hesse oder wem auch immer.
Dies ist aber nur ein Nebeneffekt und Kunst darf nicht wirklich von sich behaupten, dass sie bilde oder Menschen verbessern kann, zumindest nicht direkt. Denn die Kunst lebt für den Moment, sie lässt uns verharren, lädt uns zum versinken und Träumen ein, macht Momente zeitlos und lässt uns die Alltagssorgen vergessen, sie bietet uns eine regenerative Ablenkung und bringt uns letztlich auch den grossen Werken der Menschheit näher. Darum
steckt euch doch vor der nächsten Zugreise ein Buch in die Tasche und pfeift auf die vermaledeite 20Minuten-Zeitung und auf das Lösen des doofen Kreuzworträtsels oder auf das Studieren der erfundenen Horoskope. Ach ja, und wenn man wieder einmal einen entfernten Bekannten antrifft und nach
einiger Zeit die obligate Frage aufkommt "„Und du, was machsch so eigentlich?“ dann antwortet man: „Ich? Ich lese und gehe gleich an ein Konzert... oder zur Arbeit“