<aktuelle kolumne

 

Der Verrückte und die Bankangestellten


nia.Ich konnte mich seinem Blick unmöglich entziehen. Ich war soeben im
Begriff, den Bahnhofskiosk zu verlassen und schwenkte meinen Blick bevor ich
auf die Treppe zusteuerte über das Bahnhofsgelände, betrachtete kurz die
herumstehenden Personen, um die Gesichter zu unterscheiden und mich zu
vergewissern, ob eines in die Kategorie der Bekannten fällt, was hier nicht
der Fall war.
Er steuerte direkt auf die Unterführung zu, den Kopf schief gehalten, mit
wirrem, glänzend pechschwarzem Haar, einer schwarzen, von der Sonne
ausgebleichten Windjacke, die nicht zugeknöpft war und violetten,
verwaschenen Hosen, die kurz genug waren um die groben Schuhe ganz zu
zeigen. Er war schätzungsweise 50 Jahre alt und sein Blick hatte etwas
durchdringendes, entschlossenes, es sah aus als ob sich seine Welt in diesem
Moment auf den zurückzulegenden Weg und seinen Schritt beschränkt hatte. Er
lief schnell, während den knappen zwei Sekunden, in denen ich ihn
betrachtete, legte er eine beachtliche Strecke zurück. Nicht in der Manier,
wie es gestresste Berufsleute, die einen Termin nicht verpassen können, zu
tun pflegen, ohne irgendwelche Anzeichen einer Gehetztheit, sondern mit dem
entschlossenen Ausdruck der nur das Ziel vor Augen zu haben scheint.
Ich dachte nicht weiter an ihn, durchquerte die Unterführung, in der er mich
überholte, schlenderte den Bahnsteig entlang und blieb an einer Stelle, die
ich für angemessen hielt, stehen, wie immer darauf bedacht, nicht all zu nah
an Unbekannten zu sein, und wenn doch, diese mit einem entschlossenen Blick
auf die Geleise, das Crazy Cow oder das Bahnhofgebäude zu ignorieren und
meine scheinbar ganze Aufmerksamkeit dem Rauchen meiner Zigarette zu widmen.
Im Augenwinkel sah ich ihn auf der anderen Seite des Perrons auf und
abgehen, eine lederne Tasche, die gut gefüllt war, fiel mir auf, er mochte
wohl sein ganzes Eigentum darin herumtragen.
Von links hinten kam mir fröhliches, aber nicht die auf einem Bahnhof
geforderte Lautstärke überschreitendes Geplauder stückweise zu Ohren, ich
konnte scheinbar ungezwungene Witzchen ausmachen, drehte mich kurz um und
sah fünf oder sechs junge, gepflegt gekleidete Bankangestellte in einem
Kreis stehen. Ich nahm wieder meine Ausgangsposition ein, es war neblig, nur
die umliegenden Gebäude waren klar erkennbar, der Rest verschwamm in grauer
Entfernung.
Eine schneidende, herausfordernde Stimme lies mich umdrehen, und ehe ich es
fertig denken konnte, sah ich ihn; es war seine Stimme, die Stimme des
Verrückten. Er stand neben dem Grüppchen der Bankangestellten, welches
weiter mit lauen Witzeleien beschäftigt war, einen Austausch von
nichtssagenden Informationen, dem man in einer Gruppe von Junggesellen, die
auf den Zug warten, gerne verfällt. Wahrscheinlich sprachen sie ein wenig
über das Wetter, die scharfe Angestellte, die Mittagsmorgen den Schalter
Eins bedient, oder über Aktienkurse oder über den Ausgang letzten Samstag im
Indochine, es war eine gezwungen heitere Atmosphäre in dieser Gruppe von
gleichmässig grau gekleideten Herren, deren Erscheinung die exakte
Verkörperung eines im New Economy-Denken verhafteten Neoliberalismus
ausdrückte; aufstrebend, materiell erfolgreich, gewinnorientiert und
gezwungen, die zwischenmenschliche Kommunikation grösstenteils in
sauglattistischen Oberflächlichkeiten zu halten.
„Ihr sind aber es netts Grüppli, nur e chli choge grau aagleit“ sagte derVerrückte in unüberhörbarer Lautstärke, den Kopf immer noch schief haltend.
Sofort drehte sich die Gesellschaft um, und derjenige, der gerade mit
Erzählen dran war, entgegnete mit einem säuerlichen Bedauertsein über die
Erscheinung des Verrückten und der Tatsache, dass er sie soeben in ein
Gespräch verwickelt hatte, mit den Worten „Ja, mir passed eus ebe em Wetteraa“, worauf seine Geschäftsfreunde ein Lächeln aufsetzten, das derPeinlichkeit ihrer Situation entsprach und ihre elitäre Distanz zum
Verrückten einigermassen aufrecht erhielt. Nach einer guten Sekunde
entgegnete jener; „Aber wenn d’Sunne schiint, laufed er au so ume, oder?“Das Grüppchen war unangenehm berührt, und um die eigene Überlegenheit zuwahren, tauschten sie vielsagende Blicke untereinander, und einer
entgegnete; „Ja mir sind ebe en Fasnachtsverein!“. Eine Erleichterung überden rhetorischen Sieg gegen den Verrückten machte sich über alle Gesichter
breit, ihr Lächeln wandelte sich von einem verhaltenen in ein überlegenes,
schon fast höhnendes Lachen und die pure Freude über diesen Spruch war allen
anzumerken.
„Ja, und für das bechömed er au no Geld, hä!“ entgegnete der Verrückte.Darauf war niemand gefasst. Eiserne Beklemmtheit und unangenehmes
Berührtsein mischte sich sofort unter die Gruppe, alle verstummten und
innerlich waren sie wohl damit beschäftigt, ihr Selbstverständnis wieder
herzustellen und sich einzureden, dass sie, den kapitalistischen Geboten
folgend und Sportwagen fahrend es viel besser hätten, als dieser
bedauernswerte Irre, der sie soeben entblösst hatte. Dieser murmelte etwas
vor sich hin, beachtete sie nicht weiter und ging mit der gleichen
scheinbaren Zielgerichtetheit seinen Weg. Das Eintreffen des Zuges beendete
die Situation und beim Einsteigen waren die Herren Bankangestellte bereits
wieder soweit, dass sie mit ihrem angestammten Gesprächsthema weiterfahren
konnten...